Novelle. The Hidden Power of Nonchalance
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DAS KIND ist tot, in den Brunnen gefallen, weg. Es ist aber wieder da, als wäre es nie verschwunden, ein altes Kind, mit Runzeln und Stoppeln und einem Bauch, der von einer letztjährigen Schwangerschaft herrührt, die aber nichts weiter abwarf als einen Stehplatz im Seitenportal einer vor dem letzten Krieg heruntergebrannten Kirche, das geeignet ist, in dem, der sich ihm nähert, sofort Aufmerksamkeit zu erregen, was aber selten, genauer gesagt, praktisch nie vorkommt. Manchmal kommt es jedoch vor, jedenfalls vorgestern, geben Sie mir doch einmal die Serviette, nicht das Glas, vorgestern glaubte ich dort eine Frau zu sehen, die hindurchschritt, einfach hindurchschritt – sie schreiten ja, unsere Frauen, gelegentlich jedenfalls, diese hier ging latschte eckerte mitten durch ihn hindurch, als wäre er Luft, was definitiv nicht der Fall war. Er ächzte ganz leise, vernehmlich eigentlich bloß dem, der sich ganz nah an ihn heranschob, Ohr an Lippe, was im übrigen nicht mein Stil ist ... dieses Ächzen hatte etwas Aufreizendes, es klang beinahe ungehörig – ich möchte sagen: an diesem Ort und auch zu dieser Zeit, vor allem zu dieser Zeit. Warum? Lassen Sie mich erklären. Herr Ober, diese Flasche hat kein Etikett, ich weiß gern, was ich meinem Körper zuführe. Die Frau, diese Frau war Lehrerin, glaube ich, natürlich weiß ich es nicht, nicht endgültig, meine ich, solche Sätze lehne ich ab, insofern hat die Lehrerin gute Karten, bei wem, das ist dann auch eher gleichgültig. Für eine Lehrerin ist es ganz normal, zu schreiten, zu durchschreiten, diese schritt aus großer Gewöhnung, und sie schritt nicht an ihm vorbei, sondern, ich wiederhole mich, wenngleich ungern, durch ihn hindurch. Sicher hatte das etwas mit dem Portal zu tun, das dadurch auffällig wird, dass hinter ihm kein Stein auf dem anderen stehen geblieben ist, man geht also, von außen kommend, ins Freie, sofern man sich nicht von dem Wissen gefangen nehmen lässt, dass hier einmal ein umgrenzter Raum existierte, innerhalb dessen die Menschen eine gewisse Scheu an den Tag legten, und sei es nur, um in der Gegenwart eines Abwesenden, jedenfalls eines Unsichtbaren (aber was heißt das schon) nicht unangenehm aufzufallen. Heute, wie gesagt, ist davon nichts übrig geblieben, man geht hinein, um gleich wieder draußen zu sein. Das Durchschreiten der Pforte wäre an sich eine schöne Geste, eine Art Reminiszenz, man verneigt sich vor etwas, das nicht mehr vorhanden ist, es kann schon sein, dass ich da etwas hineinlese, denn die Pforte steht ja noch immer da, und die Menschen gehen vielleicht nur hindurch, weil sie das so gewöhnt sind. Es mutet sie seltsam an, wenn sie sich gleich im Freien wiederfinden, aber sie sind ja nicht schuld daran, und so haben sie die Empfindung einer unverhofft um den Ernst des Lebens verkürzten Realität, sie lächeln albern aus sich heraus in dieses Nirgendwo, in dem sie sich plötzlich angekommen fühlen. Steht einer allerdings unter dem Portal und weicht bestenfalls andeutungsweise zur Seite, ohne Anstalten zu machen, selbst durchzugehen, dann blicken sie schon einmal schräg an ihm hoch, weil sie das Gefühl haben, dass da irgendwie eine Verbindung existieren könnte, von der sie nichts wissen; das wurmt sie und hält sie kurz in Schach. Natürlich ist das Gefühl viel zu schwach, um gegen den Drang anzukommen, das Hindernis zur Seite zu drücken, zu drängen und zu schieben, sich hier um keinen Preis aufhalten zu lassen, denn dazu, sie aufzuhalten, hat keiner ein Recht. Und haben sie etwa nicht Recht? In den allermeisten Fällen sind es ja auch dümmlich wichtigtuerische oder ganz leere Figuren, die sich an solchen Orten herumdrücken und sich wie Türsteher den Nachrückenden in den Weg stellen. Die Zahl solcher Schildwachen ist Legion, man findet sie zuhauf, vor allem in den Museen, wo sie einem das Besichtigen der Hauptstücke zur Qual machen. Sie finden, ich habe Recht? Das ist ein Zeichen von Intelligenz, darauf stoßen wir an. Sie sind eine Frau, da haben Sie schon eine gewisse Ähnlichkeit mit der Lehrerin, auf die ich jetzt leider wieder zurückkommen muss, denn sie hat ihr Fett noch nicht abbekommen, aber prima vista halte ich Sie für sympathischer. Ja sehen Sie, so kann man sich täuschen. Jene andere, Ihre Doppelgängerin, hatte, wie gesagt, es nicht nötig, den Portalsteher zur Seite zu schieben, sie ging einfach durch ihn hindurch und hatte ihn, bevor er sich von seiner Verblüffung erholen konnte, bereits das zweite Mal passiert, denn dass sie sich nicht länger als nötig im Nirgendwo aufhalten würde, stand ihr mitten ins Gesicht geschrieben.