Novelle. The Hidden Power of Nonchalance
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Merkwürdigerweise hat er den nunmehr auffällig gewordenen Ingenieur immer als einen solchen Fall angesehen, er traut ihm, offen gesagt, die Rolle des Empörers nicht zu, wenn er es recht bedenkt, kommt ihm die Darstellung, die er von dem Vorgang erhalten hat, verdächtig vor. Irgendein Umstand muss dabei im Spiel sein, den man ihm verschweigt, sei es, dass die Angegriffene ihre Freundinnen an der Nase herumführt, sei es, dass Frauensolidarität in diesem Punkt über alles geht; er spürt den Punkt, aber er kann ihn nicht benennen, er kennt ihn nicht. Kann man einen Mann zähmen, indem man ihn für eine frühe aggressive Entgleisung büßen läßt? Kann man sich eines solchen Mannes entledigen, indem man ihn zwanzig Jahre später zum Gewalttäter stempelt? Seltsame Einfälle. Der Mann weiß sich von aggressiv-törichten Anwandlungen frei, was aber die Aggressivität der anderen Seite nur zu ermuntern und aufzuheizen scheint. Deren Ausbrüche sind nicht übermäßig häufig, wahrscheinlich sind sie gesellschaftlich ›akzeptiert‹, aber im Lauf der Jahre addieren sie sich: das aus unerheblichen Anlässen erhobene forcierte Geschrei am offenen Fenster, die im Vorbeigehen gezischten oder gemurmelten, als Selbstgespräch maskierten Beschimpfungen des Typus’ ›Das ist doch irre!‹, mit denen sie seine Handlungen und Gewohnheiten aufs Korn nimmt, das auffällige Zerbrechen und Verschwinden gemeinsam genutzter Gegenstände, soweit sie von ihm angeschafft wurden – sie kommen übergangslos, liegen wie erratische Blöcke in einer Landschaft aus gemessenen, hier und da mit einem Anflug von Sanftheit dekorierten Reden und Gebärden, die so direkt dem Wesen der Frau entsprungen scheinen, dass der plötzliche Wechsel wie ein momentanes und wesentlich folgenloses Außer-Sich-Geraten erscheint, das nur durch eine so ›irre‹ Gegenwart wie die seine induziert worden sein kann. Zweifel an dieser Lesart erweckt ihr seit jeher zur Heftigkeit neigender Umgang mit der gemeinsamen Tochter, aber das steht auf einem anderen Blatt. Augenblicklich beschäftigt ihn die Erinnerung daran, dass ihn diese Frau ehedem durch ihre Ruhe bestochen hat, weil sie sich sich in scharfem Kontrast von der explosiven Natur seiner früheren Lebensgefährtin abhob, eine gelassen wirkende Ruhe, die zu sehr ihrem Naturell zu entsprechen schien, als dass er auf den Gedanken gekommen wäre, sie könnte in einer nicht fernen Zukunft während einer Auseinandersetzung die Balkontür öffnen, um ihrem Gezeter ein größeres Publikum zu verschaffen. Dieses Element ist neu im Repertoire, es ist nach der Ingenieurs-Geschichte hinein gekommen, er weiß, dass sie weiß, dass sie damit eine alte Panik neu in ihm belebt, weil sein Selbstbild – dieses etwas starre, etwas ehrpusselige und von einem überlebten Gefühl der eigenen Würde bestimmte Selbstbild – gerade diese Form der Auseinandersetzung nicht erträgt. Es sind alte Geschichten, die sie aufgreift. Sie weiß, dass sie ihren Stachel in ihm hinterlassen haben. Sie weiß es, weil er es ihr irgendwann erzählte, und sie münzt sie jetzt gegen ihn aus, während er es noch immer nicht unterlassen kann, ihr neuen Stoff zu liefern. Das ist sein Problem: Er kann die Kriegserklärung nicht annehmen, die seit Jahren auf dem Tisch des Hauses liegt, erstens, weil er ihre Motive nicht versteht, zweitens, weil er, selbst wenn er sie verstünde, sie für null und nichtig hielte, drittens, weil die Vorstellung, die er vom häuslichen Zusammenleben besitzt, Feindseligkeit kategorisch ausschließt. Er sitzt im Zug, es wird spät heute Abend, der Anschlusszug ist nicht zu schaffen, es schüttet vom Himmel, er hat soeben telefoniert, der Unmut der Lehrerin rauscht noch in seinem Ohr, immerhin: Sie wird ihn abholen, er soll sich melden, sobald er eintrifft. Dieser Unmut ... er kennt ihn, seit er die Bahn benützt und gelegentlich verpasste Anschlüsse solche Anrufe nötig machen. Im übrigen zieht er an seinen Ankunftsabenden den rumpelnden Rollenkoffer mit selbstverordnetem Gleichmut hinter sich her, über Straßenbahntrassen und Zierpflaster, durch Regen und Schnee, vom Bahnhof zur gemeinsamen Wohnung, die seine zu nennen weder ihr noch ihm jemals in den Sinn kam, obwohl gewisse Kontobewegungen darüber andere Auskunft geben könnten.