Novelle. The Hidden Power of Nonchalance
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– Und die Frau redet nicht mit ihm?

– Nicht wirklich, nein.

– Wie lange geht das denn schon?

– Lassen Sie mich nachrechnen. Das sind ja nun zwei verschiedene Linien, die innere und die äußere Chronologie einer Geschichte, ich habe mich darauf beschränkt, die innere zu erzählen. Aber da Sie jetzt danach fragen: Das geht natürlich alles schon einige Jahre, es geht in die Jahre, wenn Sie verstehen, da liegt Staub drauf, aber manchmal geschehen so Dinge, da ist alles wieder ganz frisch, so wie neulich, als sie mit selten gesehenen Freunden – seinen Freunden, wohlgemerkt – beisammensitzen und er von einer vor kurzem, übrigens allein unternommenen Reise zu erzählen beginnt, wie gesagt, er legt Wert auf Details, sie unterbricht ihn und führt den Bericht mit ein paar dürren Worten zu Ende, dann steht sie auf, bittet ihn zu zahlen und geht. Nur eine Episode von vielen, wenn man es so sehen will, nicht anders ergeht es ihm vor den Kindern, aber diese Szene hier ist nicht häuslich, wenn Sie verstehen, was ich meine.

– O ja. Wie reagiert er?

– Er erstarrt. Zunächst innerlich, aber das will bei ihm nichts heißen. Als die Frau weg ist, bestürmen ihn die Freunde und er lüftet den Schleier über dieser Beziehung –

– und die Freunde sind entsetzt. Sie wollen es nicht wahrhaben. Eine so reizende Frau und all die Jahre, das kann so nicht stimmen. Etwas an seiner Wahrnehmung muss falsch sein oder sagen wir revisionsbedürftig. Nicht wahr? Ich persönlich glaube ja, dass sie damit nicht ganz falsch liegen.

– Dann erzählen Sie mal weiter. Sie scheinen die Geschichte zu kennen.

– Ich kenne solche Geschichten. Eigentlich kennt sie jeder. Ich persönlich meine ja, die Männer legen sich da etwas zurecht, was nicht da ist. Frauen machen das nicht mit Überlegung. Sie reagieren auf den Typ, und wenn dann der Typ nicht nach ihrem Geschmack ist, spinnen sie einen Kokon um ihn, sie spinnen ihn einfach ein. Es mag schon sein, dass es sehr schwer ist, da wieder herauszukommen, ich bin kein Mann, aber ich stelle mir das so vor. Das ist dann sein Problem. Die Männer können nicht von den Frauen verlangen, dass sie ihre Probleme lösen, das müssen sie schon selbst. Also worauf wartet er?

– Ich weiß nicht, ob er wartet. Er bemüht sich sehr, nicht zu warten.

– Das verstehe ich überhaupt nicht.

– Ich versuche es zu verstehen. Wenn er wartet, dann ist jede Minute, die er bleibt, vergeudete Zeit. Er hat aber keine Zeit zu vergeuden. Der Grund liegt in ihm selbst, in dem, was er ist.

– Was ist er denn? Ein Krüppel?

– Sie aber auch! Nun, er ist nicht behindert, er hat kein künstliches Organ, er humpelt auch nicht. Seine Behinderung ist mehr innerer Natur, ich nehme an, eine Vorstellung oder eine Idee, die dann und wann vermutlich in jedem Menschen herumgeistert, aber eher als Tagtraum oder irgendwann als ein Albtraum, im Bewusstsein dieses Menschen hingegen hat sie sich dauerhaft eingenistet und führt dort ein herrisches Eigenleben: das ist die Idee der Vollständigkeit, eine Art Messlatte, die man nicht an andere anlegen kann, nur an sich selbst, obwohl in der Regel –

– ich wollte gerade sagen –

– man immer nur den anderen ansieht, woran es fehlt. Woran fehlt’s denn? Man möchte es manchmal nicht glauben, aber sagen Sie, was Sie wollen, ein Krüppel ist jeder. Halten Sie sich für vollständig?

– Bis jetzt schon ... Ich habe nicht darüber nachgedacht, aber wie Sie das jetzt so sagen, enthalte ich mich wohl lieber der Stimme.

– Gut, dass Sie’s einsehen. Es hat auch keinen Zweck. Regen Sie sich nicht auf, es hat keinen Zweck. Obwohl Sie als Frau natürlich ein Recht darauf haben, sich zu echauffieren. Hübsches Wort, schade, dass es ausstirbt. Eine Frau echauffiert sich nicht, sie hat einen Grund. Also regen Sie sich nicht auf. Schließlich ist das, was ich Ihnen erzählen will, aufregend genug.